Unser Job ist es, die Welt gesundzulieben

Zwei Freundinnen halten Blumen

Eine besondere Freundschaft, mit tragischem Ende. Anne Fleck erzählt von ihrer Herzensfreundin Katharina, die an Krebs gestorben ist und nicht nur Erinnerungen hinterlässt. Anne Flecks eindrückliche Geschichten über einen ihr nahestehenden Menschen beinhaltet eine Message an jeden von uns.

Meine Freundin ist gestorben. Zu schreiben ‹Katharina ist tot›   kommt mir dennoch irgendwie gelogen vor. Sie ist nicht mehr da. Ich kann sie nicht anrufen. Wir werden nicht mehr zusammen auf ihrem Sofa sitzen. Nicht mehr singen, nicht mehr beten, nicht mehr Filet essen oder Cappuccino trinken oder über die Hoffnung diskutieren und uns vornehmen, dass wir wichtige Philosophen lesen und es dann doch nicht tun. Und dennoch: Tot trifft es nicht. Und ich würde nicht mal sagen, sie lebt in meinen Erinnerungen. Ich finde das ein bisschen frech. Man kann doch keinen ganzen Menschen in eine Erinnerung verpacken. Das wäre ein sehr kleines Leben. Das würde Katharina winzig machen. Sie lebt nicht mehr hier mit uns, aber sie ist da. Und ich glaube, dass ich sie wieder sehe. Ich glaube sogar, dass sie im Himmel herumwurschtelt und alles vorbereitet – für die Zeit, wenn wir – einer nach dem anderen – nachkommen.

Ich habe mal irgendwo gehört oder gelesen, dass man die Verstorbenen ehren soll, indem man hochhält, was ihnen heilig war – und mich dann gefragt, was sie uns dagelassen hat. Und tatsächlich hat Katharina uns einen Auftrag hinterlassen – nämlich ihre Art, die Welt gesundzulieben, in unser Leben zu integrieren. Ich glaube, dass das unser einziger Job ist hier auf der Erde: zu lernen zu lieben und uns lieben zu lassen. Und dabei eben die Welt gesundzulieben.

Meine liebste Freundin – sie war mir ein Vorbild, als wir uns hier noch gemeinsam abgeplagt und amüsiert haben, und sie ist es noch mehr geworden, seit ihr Leben hier vollendet ist. Wir waren uns ähnlich und sehr verschieden. Wir haben uns beide in unterschiedlichen Rhythmen immer irgendwo zwischen Akademikerdasein und Arschproletentum bewegt – jeweils garniert mit einer guten Portion christlicher Hausfrau. Und gleichzeitig waren wir an ganz unterschiedlichen Punkten mutig, wütend, feige, zärtlich, hoffnungsvoll und traurig.

Ich kann mich nicht an eine Katharina erinnern, außer in ein paar Momenten vor ihrem Tod, die nicht gegen die Anfechtung der Traurigkeit gekämpft hätte – egal ob verheiratet, als Mutter oder als Single. Aber sie hat erfolgreich gekämpft. Ihre Tapferkeit hat sich vor allem dadurch geäußert, wie sie sich getraut hat, sich zu freuen, und noch mehr: ihre Freude weiterzugeben. Katharina hatte dieses klare Bewusstsein, dass das Leben gefeiert werden muss. Sie hat hart gearbeitet, viel gebetet, Schönes geliebt und war bereit, zu investieren in Kunst und Mode und große Feste. Sie hat immer mit Wunderbarem gerechnet. Und als das Leid kam, hat sie es genauso angenommen wie vorher die Schuhe von Prada.

Irgendwie wusste sie es: Dass die Fülle des Lebens nicht nur in den fetten Jahren erfahrbar ist. Es könnte damit zu tun haben, dass sie Gott immer was zugetraut hat. Sie hat ihn einkalkuliert und sein Eingreifen erwartet – gefordert, um genau zu sein. Die Zeiten, in denen es einfach so hingeplätschert ist, das Leben, kamen ihr viel verdächtiger vor als die Zeiten des Überflusses und der Not. Katharina fand das immer plausibel: dass Gott ihr was klarmachen würde, dass Geschenke kommen, sich Neues auftut und Abenteuer ergeben. Und sie war bereit, für diese Lebendigkeit auch einen Preis zu zahlen. Sie hat gelebt wie ein Lieblingskind – mit allen Höhen und Tiefen. Alles Flache, auch wenn es komfortabler anmutete, war ihr zutiefst suspekt.

Katharina war bereit, Herausforderungen anzunehmen. Sie hat sie regelrecht gesucht. Sie wollte sich auch das Sperrige antun und harte Differenzen aushalten und sie hätte Biden und Trump gemeinsam zum Tee eingeladen, anstatt sich vehement in das eine oder andere Lager zu schlagen. Ihre Fähigkeit zur Einheit hat oft gefunkelt, besonders auch, als ich mich entschied, katholisch zu werden. Sie hat mich total unterstützt, dabei war ihr mein neuer Klub im Grunde doch eher fremd. Wenn sie etwas seltsam fand, hat sie mich danach gefragt, und wenn ich ihr erzählt habe, wie ich es meinte verstanden zu haben, hat sie das oft für einleuchtend befunden. Sie war meine einzige evangelische Vertraute, die es plausibel fand, dass wir die Heiligen im Himmel zum Beten einspannen. Katharina hatte immer Lust auf neue Ideen und die Konzepte dazu. Deshalb konnte sie die unterschiedlichsten Anliegen und Interessen in ihr Leben integrieren. Aber vor allem waren es Menschen, die sie integriert hat. Sehr unterschiedliche Menschen. Und das ist sicher einer der ganz elementaren Bestandteile unserer Aufgabe auf der Welt.

Das Einzige, wofür Katharina kein Verständnis hatte, war Unechtheit. Sie hätte niemanden abgelehnt aufgrund seines Lebensstils, Glaubens oder der politischen Haltung, das hätte sie schlichtweg spießig und unintelligent gefunden. Aber wenn jemand etwas vorgespielt hat, Frömmigkeit, Coolness oder Intellektualität zum Beispiel, das hat sie entweder beunruhigt oder sofort zur Flucht veranlasst. Sie hatte für jeden Scheiß Verständnis, aber nicht für gelebte Unwahrheit. Ich glaube, das war einer der Punkte, die sie an mir gemocht hat. Ich bin oft ein Arschloch, aber ich gebe mir große Mühe, nie eine Heuchlerin zu sein.

Natürlich hat sie von niemandem verlangt, sich selbst allzeit komplett offenzulegen, aber sie wollte die echten Leute sehen, für Darstellungen ihrer optimaleren Versionen hat sie sich nicht interessiert. Weil so was der Einheit im Weg steht. Einheit gibt’s nur, wenn alle in echt mitmachen. Vielleicht hatten wir deshalb beide immer einen dezidierten Widerwillen gegen alles, was so tut, als ob.

Was man für die Einheit – und eigentlich für jede Form echter Fruchtbarkeit – dringend braucht, ist Demut. Ich glaube, sie ist einer der Dreh- und Angelpunkte eines auf die Liebe hinsortierten Lebens. Katharina und ich haben versucht zu üben, uns demutstechnisch besser aufzustellen. Mit schwankenden Ergebnissen, würde ich sagen. Bis sie mich irgendwann weit überholt hat. Jetzt hängt sie mit Engeln ab, und mir rutschen nach wie vor mit großer Zuverlässigkeit Momente der Arroganz, des Selbstmitleids und des Egoismus raus.

Ohne Demut wird es keine effektive Mission geben. Wenn Mission nicht Ermutigung ist, sondern Proklamation der eigenen Werte, können wir unsere Gemeinden und Kirchen dichtmachen. Manchmal ist es richtig alarmierend. Statt zu vermitteln: «Ich teile das Schönste, was ich habe, und das Schönste ist Christus!», rennen wir rum, erzählen allen von unseren Überzeugungen und lassen sie dabei spüren, was uns antreibt, nämlich der Gedanke: «Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!» Sobald man merkt, dass «Rechthaben» der eigene Antrieb zur Mission ist und nicht «Gottes Zärtlichkeit und Freude weitergeben», sollte man lieber eine Runde aussetzen und – mit Verlaub – die Schnauze halten, denn diese halsstarrige Empathielosigkeit ist der Untergang.

Ich glaube, die christliche Proto-Botschaft klingt in echt eher so: «Du bist schöner geschaffen, als du je zu hoffen gewagt hättest, du darfst dich trauen, in Fülle zu leben. Verzichte auf das, was dir schadet. Und jetzt entdecke das Große, das Gott denen bereitet hat, die ihn lieben!»

Katharina hat ständig den Blick in Richtung Fülle gewandt. Freunde, die das tun, sind ein großer Schatz. Ich erinnere mich noch, wie wir uns einmal über die Geschichte unterhalten haben, wo Petrus aus dem Boot steigt. Solange er Jesus anschaut, geht er auf dem Wasser. Und dann fängt er das Fürchten an und säuft ab. Es hat mich damals total berührt, wie Katharina über diese Stelle gesprochen hat. Sie wollte aufs Wasser und fand auch, dass die anderen aufs Wasser gehörten. Vielleicht bringt diese Geschichte unsere gemeinsamen geistlichen Erfahrungen am besten auf einen Nenner. Ich höre, wenn ich daran denke, auch immer die Stimme von Johannes Paul II, der mit seinem schönen polnischen Akzent sagt: «Do not be afraid.»

Katharina kann sich jetzt mit ihm und Petrus direkt über die Furchtlosigkeit und das Absaufen austauschen. Sie hat, was die Gesprächspartner anbelangt, ein krasses Upgrade gemacht. Ich werde derweil hier noch versuchen, alles zu geben, um in meinem Umfeld Ermutigung zu hinterlassen. Ich halte das für einen zentralen Aspekt meiner und unserer aller Berufung auf diesem Planeten, eines der wichtigsten Tools, um die Welt gesundzulieben – das Ermutigen, ohne Psycho-Scheiß und Para-Evangelium, sondern mit dem Glanz der Wahrheit die Leute erinnernd, nach wessen Abbild sie geschaffen sind. Gott hat nicht gemurkst. Wir tun es gelegentlich. Aber davon darf man sich nicht verunsichern lassen. Da ist so viel Schönheit in den Menschen!

Katharina und ich haben uns gemeinsam dem Ursprung der menschlichen Schönheit, dem Herrgott, zugewandt und zusammen gebetet. Eine Weile fast wöchentlich. Zuerst gefrühstückt, dann gebetet. Katharina hat versucht, mir das Teetrinken beizubringen. (Ich übe immer noch. Aber es wird schon besser. Man kann sich auch als Erwachsener noch weiterentwickeln.) Ich habe für sie Milchschaum gemacht, damit sie den Kaffee mehr genießt. Und ich habe versucht, sie zum Sekt-Frühstück zu überreden. Ich war immer ein Fan von Daydrinking, konnte sie aber nie wirklich dafür gewinnen.

Wir haben für Männer, eine Vision für unsere Leben, für ihre Projekte und meine Magisterarbeit gebetet. Sie wollte, dass wir aufschreiben, wofür wir beten, damit wir später sehen konnten, was wir alles schon gemanagt hatten. (Ich habe leider das Heftchen aussortiert, weil ich mich dafür geniert habe, in wen ich damals verknallt war.) Sie hat uns «Sparringpartner» genannt und war überzeugt, dass jeder einen Sparringpartner braucht. Sie war ein sauguter. Irgendwie ist sie es noch immer. Und sie hatte total recht: Wir brauchen dringend Sparringpartner. Die wir mit Hingabe lieben und denen wir erlauben, uns zu lieben. Und uns in den Arsch zu treten. Innige Freundschaften sind Lebensretter. Und gleichzeitig braucht man gerade für echte und tiefe Nähe einen gut gewahrten Raum, in den man sich regelmäßig zurückzieht und von dem aus man auf die anderen zugehen kann. Katharina hatte ein Bewusstsein für diesen Bedarf und ihre eigene Kultur des Alleinseins entwickelt. Unser gemeinsames Beten hat von unseren jeweiligen Sessions allein immer profitiert. Und in beidem ist bei uns die gemeinsame Sehnsucht gewachsen, zu lieben. Vielleicht sogar selbst Liebe zu werden.

Das war – aber das habe ich erst später kapiert – einer der Gründe, warum Katharina sich so gewünscht hat, zu heiraten und Kinder zu haben. In echt war sie aber lange bevor ihre Tochter Salome geboren wurde, eine Mutter. Ich glaube, das war eines ihrer großen Talente als Chefin. Sie ist mit den Menschen umgegangen wie eine gute Mutter. Nämlich eine, die sich nicht in alles einmischt, sondern die ihre Kinder befähigt, das Ruder selbst in die Hand zu nehmen. Gleichzeitig hat sie sich nie über die Leute gestellt, auch wenn ihr jemand viel verdankt hat. Und sie war krass ehrlich mit ihren eigenen Baustellen. Ich habe selten jemanden getroffen, der so wenig Bedürfnis hatte, Kritik abzuwehren. Sie wollte sich alles anhören. Auch in Bereichen, in denen andere tot umfallen, wenn ihnen Feedback begegnet – eben bei Parenting-Fragen zum Beispiel.

Das ist übrigens auch eine gute Nachricht für die Leute, die sich nach Kindern sehnen. Du willst gern eine Mutter sein? Fang einfach mal an. Die Welt ist voller Menschen, die sich nach Mamas sehnen. Ran an den Speck, würde Katharina sagen! Dann erleben nicht nur mehr Menschen ein Zuhause, dann haben auch mehr von uns eine erfüllende Mission. Und im Gegensatz zu einer Mutter mit eigenen Kindern darf man nachts weiter durchschlafen, selbst wenn man sich mit einer gewissen Opferbereitschaft für andere einsetzt. Außerdem kann man üben, was alle Eltern lernen müssen, nämlich, dass die Kinder nicht für einen selbst da sind, sondern nur anvertraut, ausgeborgt quasi. Es ist nicht der Job unserer Mitmenschen – nicht mal, wenn wir sie geboren haben – unsere Erwartungen zu erfüllen. Die anderen existieren nicht, um uns ein gutes Gefühl zu geben. Das haben wir auch in unserer Freundschaft, in der wir uns so viel ermutigt haben, immer wieder gemerkt.

Ich glaube, dass Katharina in der letzten Zeit ihres Lebens große Gnaden und Einsichten geschenkt wurden, und dennoch gab es immer wieder grauenhafte Tiefpunkte. Und ich frage mich manchmal, ob nicht weniger Tiefpunkte aufgetaucht wären, hätte es weniger engagierte Stimmen gegeben, die ihr ins Ohr flüsterten: «Ein guter Gott würde nicht zulassen, dass du stirbst. Er hat uns ja gemacht, damit wir glücklich sind, und du möchtest leben, also wirst du auch gesund, weil dich das glücklich macht.» Der gute Gott hat es zugelassen. Katharina ist vor uns losgezogen. Dabei habe ich mich arg darauf gefreut, die nächsten vierzig oder fünfzig Jahre mit ihr rumzuhängen. Jetzt ist es so, dass ich statistisch gesehen wahrscheinlich erst in vierzig oder fünfzig Jahren wieder mit ihr rumhänge. Dann aber hoffentlich für immer. In der Zwischenzeit wird sie es genießen, zu Hause angekommen zu sein, und ich bemühe mich, ihr irgendwann in genau dieses Zuhause, den Himmel, zu folgen.

ursprünglicher Text bei AUFATMEN erschienen, Ausgabe 4/22, S.6–9

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