Die Bibel als Herzstück der westlichen Kultur

Der indische Philosoph und Autor Vishal Mangalwadi schreibt in seinem Werk «Das Buch der Mitte» darüber, wie die Bibel die westliche Kultur geprägt hat. Er zeigt auf, wie die Bibel in Geschichte und Gegenwart die Welt verändert und erzählt über die daraus resultierenden unterschiedlichen Wertvorstellungen. Ein Auszug.

1976 ließen meine Frau Ruth und ich das Stadtleben Indiens hinter uns, um uns am Rande des Dorfes Gatheora niederzulassen. Von dort aus wollten wir unseren Dienst unter der ländlichen Bevölkerung beginnen, die von schwerer Armut betroffen ist.

Als ersten Schritt beschloss Ruth, jeder Familie im Dorf einen Besuch abzustatten. Jeden Tag klopfte sie bei Familien an, um sich zu erkundigen, wie wir ihnen helfen könnten. Bei einem solchen Besuch begegnete Ruth Lalta, einem zehnjährigen Mädchen, das einer niedrigen Kaste angehörte. Auf die Frage: «Wie viele Brüder und Schwestern hast du denn?», antwortete Lalta: «Vier – vielleicht auch drei.»

«Sind es drei oder vier?», hakte Ruth neugierig nach.

«Drei. Das vierte ist fast tot.»

«Darf ich es sehen?»

Das Kind war ein Mädchen namens Sheela. In der Mitte eines fensterlosen, schmuddeligen Raums lag ein eineinhalbjähriges Wesen, das nur noch aus Haut und Knochen bestand, auf einer kargen Pritsche. Ihr Körper und Kopf waren mit eitergefüllten Blasen übersät. Fliegenschwärme fielen über sie her, weil sie zu schwach war, um die Hand zu heben und sie zu verscheuchen. Ihre Oberschenkel waren nur so dick wie die Daumen eines Erwachsenen. Sheela war so schwach, dass sie nicht einmal mehr weinen konnte. Sie starrte nur vor sich hin.

Tränen stiegen in Ruths Augen auf. «Was hat sie denn?», fragte sie die Mutter.

«Och, sie isst nicht», erwiderte die Mutter mit einem Grinsen.

«Sie erbricht alles, egal, was man ihr verabreicht.»

«Warum bringen Sie sie nicht in ein Krankenhaus?»

«Woher sollen wir das Geld für einen Arzt nehmen?»

«O weh», reagierte Ruth, betroffen vom Ausmaß der Armut, und bot an: «Ich werde ihre Behandlung bezahlen.»

«Und woher sollen wir die Zeit nehmen, ins Krankenhaus zu gehen?», wandte die Mutter ein.

«Wie meinen Sie das? Ihre Tochter liegt im Sterben, und Sie haben keine Zeit, sie ins Krankenhaus zu bringen?»

«Ich habe noch drei Kinder», sagte die Mutter, «und einen Mann.

Außerdem weiß ich gar nicht, wie ich dort hinkommen soll.»

«Fragen Sie doch Ihren Mann, ob er Sie nicht begleiten kann», schlug Ruth vor.

«Er hat keine Zeit. Er muss sich um das Vieh kümmern und hat auf dem Acker zu tun.»

«Sagen Sie ihm, dass ich jemanden bezahle, damit er einen Tag lang für ihn die Feldarbeit erledigt. Ich komme auch mit, viele Mitarbeiter im Krankenhaus sind Freunde von uns.»

Um die Gesprächspartnerin loszuwerden, versprach die Mutter schließlich: «Ich rede mal mit meinem Mann darüber.»

Ruth war glücklich. «Dann schicke ich Ihnen heute Abend meinen Ehemann vorbei, damit die beiden alles besprechen können. Und morgen früh bringe ich Sie ins Krankenhaus.»

Überredenskunst statt Freudengeschenk

Nach diesem Gespräch machte sich Ruth eiligst auf den Heimweg, um ja sicherzustellen, dass ich auf jeden Fall meinen Teil tat, damit Sheelas Leben gerettet werden konnte. Als ich dann am Abend die Familie aufsuchte, traten Mutter und Vater vor das Haus, um mit mir zu reden. Einige Nachbarn schälten sich aus ihren Behausungen, um ja nichts zu verpassen. Das Elternpaar hatte beschlossen, nicht ins Krankenhaus zu gehen.

«Warum?», fragte ich erstaunt.

«Weil wir kein Geld haben.»

«Aber meine Frau bezahlt es doch.»

«Wir wollen keine Schulden machen.»

«Dann bestätige ich es hier vor allen Zeugen», entgegnete ich und wies auf die Nachbarn, «dass wir das Geld niemals von Ihnen zurückverlangen werden. Es ist ein Geschenk.»

«Aber wir haben keine Zeit.»

«Meine Frau hat Ihnen doch auch gesagt, dass wir Ihnen für einen Tag eine Vertretung für die Feldarbeit zahlen.»

«Was soll diese Belästigung?», reagierten sie daraufhin verärgert, als ich auf meiner Forderung beharrte. «Schließlich ist sie doch unsere Tochter.»

Ich konnte und wollte nicht glauben, dass sie den Tod ihrer Tochter bewusst in Kauf nahmen. So viel elterliche Grausamkeit überstieg einfach meine Vorstellungskraft. Andererseits hatte ich keine andere Erklärung für ihr Verhalten. Daher beschloss ich, mittels der öffentlichen Meinung Druck auf sie auszuüben.

«Wollen Sie das Mädchen töten?», fragte ich nun mit erhobener Stimme.

«Natürlich nicht. Aber was sollen wir denn machen, wenn sie nichts isst und die ganze Zeit erbricht.»

«Warum lassen Sie nicht die Ärzte etwas für sie tun, wenn Sie nichts machen können?»

«Weil wir uns das nicht leisten können.» Offensichtlich waren sie genauso hartnäckig wie ich.

«Okay», langsam verlor ich die Geduld, «wenn Sie das Kind morgen nicht ins Krankenhaus bringen, dann gehe ich zur Polizei und melde dort, dass Sie sie umbringen. Wie können Sie nur so grausam sein? Warum nehmen Sie nicht gleich ein Messer und erstechen sie? Warum lassen Sie sie noch so lange leiden?»

Dann wandte ich mich den Nachbarn zu und fragte sie: «Warum sagen Sie denn nichts? Ist Ihnen das hilflose Kind auch einerlei?»

Leider sollte mein Kalkül, in dieser Sache von den Nachbarn moralische Unterstützung zu erhalten, nicht aufgehen. Vielmehr schauten mich die Menschen mit erstaunten Augen an, als sei ich nicht ganz bei Sinnen. Schließlich ergriff ein älterer Mann das Wort, um den Konflikt zu lösen, und sagte zu Sheelas Eltern:

«Wisst ihr, vielleicht geht er wirklich zur Polizei. Und wenn die Polizei Sheela ins Krankenhaus bringt, dann bleibt ihr auf der Rechnung sitzen. Es ist wirklich besser, wenn ihr mit ihm geht.»

Die Krankenhausbesuche und der tragische Ausgang

Nach unserer Ankunft im Krankenhaus nahm Dr. Mategaonker Sheela auf und versorgte sie intravenös mit Nahrung und Medikamenten. Nach ungefähr einer Woche konnten die Schwestern sie über eine Nasensonde füttern. Nach einer weiteren Woche durften wir sie zu uns nach Hause holen. Wir versorgten Sheela weiterhin über diesen Zugang mit flüssiger Nährlösung, bis sie kräftig genug war, selbst zu essen.

Unterdessen waren weitere junge Leute zu uns gestoßen, darunter auch Mark, ein Student des HNGR-Programms (Human Needs and Global Resources) vom Wheaton College in Amerika. Wir entwickelten uns allmählich zu einer kleinen christlichen Lebensgemeinschaft. Die jungen Leute kümmerten sich liebevoll um Sheela, wuschen sogar ihre schmutzigen, übelriechenden Stoffwindeln von Hand. Auf die Zuwendung und Liebe sowie auf die verabreichte Medizin und die zugeführte Nahrung sprach das kleine Mädchen sehr gut an. Ja, sie wurde ein richtiger «Wonneproppen». Aber das Glück sollte nicht lange anhalten. Eines Morgens erschien ihre aufgebrachte Mutter und meinte: «Die Dorfbewohner sagen, dass Sie unsere Tochter unter einen schlechten Einfluss bringen. Wenn sie bei Ihnen isst, wird unsere Kaste verunreinigt und Sheela wird zur Christin.»

Ruth versuchte der Mutter zu erläutern, dass sie ihre Tochter gerne jederzeit mit nach Hause nehmen dürfe, wenn sie das wolle. Wir selbst seien lediglich froh und dankbar, dass wir hätten helfen können. Ja, sagte Ruth, sie freue sich, dass es nun möglich sei, das Kind wieder den Eltern zurückzugeben. – Doch innerhalb weniger Wochen befand sich Sheela wieder in dem gleichen kritischen Zustand wie zuvor.

Wieder begann alles von vorn. Ruth machte sich erneut auf, um die Mutter davon zu überzeugen, dass ihr Kind Hilfe brauchte. Dann brach auch ich auf, um dem Vater ernsthaft ins Gewissen zu reden, und später brachte Ruth Sheela gemeinsam mit ihrer Mutter ein weiteres Mal ins Krankenhaus.

Sheela wurde erneut intravenös versorgt und dann zu uns nach Hause entlassen. Bald darauf sollte ihre Mutter wieder bei uns vorstellig werden, um sich zu beschweren. Ruth, die sicherlich fest damit rechnete, dass diese nicht noch einmal den gleichen Fehler beging wie beim letzten Mal, gab ihr Sheela erneut mit nach Hause. Nach kurzer Zeit war Sheela tot.

Sheelas Eltern ließen sie verhungern, weil für sie das Kind vor allem eine Belastung war. Um auf ihre Söhne aufzupassen, zu putzen und zu kochen, reichte ihnen eine Tochter. Ein zweites Mädchen hielten sie nur für eine zusätzliche Last. Eine Tochter würde man schließlich weitere zehn, zwölf Jahre durchfüttern müssen – nur um sich dann noch, wenn sie heiratete, für die Mitgift hoch zu verschulden. Zudem bestand die Gefahr, dass ihre Schwiegereltern sie misshandelten, um so noch mehr Geld von ihren Eltern zu erpressen. War die höhere Mitgift einmal erschlichen, wurden die jungen Frauen nicht selten anschließend umgebracht. Zu jener Zeit fanden nach einheimischen Presseberichten allein in der Hauptstadt jedes Jahr 300 junge Ehefrauen auf diese Weise den Tod.

Selbst wenn der schlimmste Fall nicht eintritt, so enden die Ausgaben der Eltern für die Tochter nicht mit dem Brautpreis. Denn sie kehrt gewöhnlich nach Hause zurück, um dort ihre Kinder zur Welt zu bringen. Warum sollten die Eltern sich solch einer permanenten Belastung aussetzen? Dagegen fielen eine kostenlose mehrwöchige Versorgung mit Medizin und Milch kaum ins Gewicht.

Gegensätzliche Wertvorstellungen

Sheelas Eltern und wir lebten aufgrund unserer gegensätzlichen Wertvorstellungen in zwei unterschiedlichen Welten. Sie betrachteten ihre Kinder als persönlichen Besitz oder als lästiges Anhängsel, je nachdem, ob sie Nutzen oder Belastung mit sich brachten. Für uns hingegen besaß jeder Mensch eine eigene Würde und einen eigenen Wert. Auch war das Gebot «Du sollst nicht töten» für uns maßgebend; es verlangte, jedem Menschen grundsätzlich das Recht auf Leben einzuräumen. Wir erhofften uns von unserer Hilfe für Sheela keinerlei persönlichen Vorteil. Vielmehr glaubten wir, dass unsere Liebe zu Gott uns dazu verpflichtete, uns ihrer anzunehmen.

Wir kümmerten uns um sie, weil wir darin Gottes Auftrag sahen: «Du aber tritt für die Leute ein, die sich selbst nicht verteidigen können! Schütze das Recht der Hilflosen! Sprich für sie und regiere gerecht! Hilf den Armen und Unterdrückten!» (Sprüche 31,8–9, Hfa)

Aus Sicht ihrer eigenen Kultur waren Sheelas Eltern keine bösen Menschen, sondern ganz normale Bürger, so schlecht und so gut wie alle anderen auch. Sie liebten ihre Kinder genauso innig. Wenn ein amerikanischer Anwalt sie hätte vertreten müssen, dann hätte er zu ihrer Verteidigung angeführt, ihr Entschluss, die Tochter umzubringen, beruhe auf Liebe. Diese Tat sei vielmehr als eine Art «Gnadentod» einzustufen, vergleichbar mit einer Frau, die ihr unerwünschtes Baby abtreibt. Schließlich hätten Sheelas Eltern in dem Bewusstsein gehandelt, dass ihre Tochter als unerwünschtes Mädchen in ihrer Kaste und Kultur ein erbärmliches Schicksal zu erwarten hätte. Ihrer Ansicht nach sei Sheela zu einer aussichtslosen Zukunft verdammt gewesen; daher hätten Mutter und Vater aus tiefem Mitleid heraus ihr Leiden abgekürzt.

Persönlich bin ich der Überzeugung, dass die Eltern tatsächlich aus diesen Motiven handelten. Sicher hätte ein Anwalt in seinem Plädoyer weiter ausgeführt, dass Menschen in privilegierterer Position nicht über das Recht verfügten, Menschen wie Sheelas Eltern zu verurteilen, die in dem Kreislauf der Armut gefangen seien.

Sheelas Eltern glaubten aufgrund ihrer stark fatalistischen Prägung aus dem Hinduismus, dass weder die Kleine noch sie selbst eine Chance hätten, den Klauen der Armut zu entkommen. Deshalb hielten sie es nicht für möglich, dass der Mensch an seinem Dasein und Leben irgendetwas ändern kann.

Aus ihrer Sicht war es ausgeschlossen, dass es jenseits von Schicksal und Karma, Natur und Kultur noch Alternativen gab. Es war undenkbar für sie, dass sie als Menschen selbst die Geschichte formen und als Geschöpfe einen kreativen Beitrag in dieser Welt leisten könnten – und dass Sheelas Leben nicht unabänderlich dazu bestimmt war, für alle Zeit öde und trostlos zu sein.

So prallten in unserem Konflikt nicht nur verschiedene ethische Positionen aufeinander, sondern gegensätzliche Weltanschauungen.

Für jemanden, der nicht mit der hinduistischen Weltanschauung vertraut ist, mag es sicherlich schwer zu begreifen sein, wie Eltern ihr Kind mit dem Einverständnis des ganzen Dorfes einfach sterben lassen können. Vielleicht kann die Aussage von Ramakrishna Paramahansa, einem Vater des modernen Hinduismus, zum besseren Verständnis beitragen. In einer seiner mystischen Visionen sah Ramakrishna seine Muttergöttin Kali dem trüben Wasser eines Flusses entsteigen. Bei genauerem Hinschauen konnte er beobachten, wie sie vor seinen Augen ein Baby zur Welt brachte, um anschließend ihr neugeborenes Kind zu verspeisen. In ihren Händen hatte das Kind wie ein Geschöpf aus Fleisch und Blut ausgesehen, aber in ihrem Mund erschien es wie blutleer [«empty»].

Obwohl selbst Hindu, konnte Ramakrishna auf buddhistische Denkstrukturen zurückgreifen, da die buddhistische Lehre des anatman (Nicht-Selbst) die gleiche praktische Konsequenz hat wie die hinduistische Reinkarnationslehre und brahman (Weltseele). Beide Lehren sagen, jegliche Individualität sei Illusion, und Erlösung sei das Aufgehen des eigenen Bewusstseins im universellen Bewusstsein («Gott»).

Die Muttergöttin darf ihr Baby deshalb töten, weil Leben und Tod nur einen niedrigen Stellenwert haben, wenn man an die Reinkarnation glaubt. In den bekannten hinduistischen Schriften, der Bhagavad Gita, ermutigt der Gott Krishna den Arjuna, seine Cousins und Lehrer zu töten, da der Tod der Seele angesichts der Reinkarnation nur einem Kleiderwechsel gleichkäme. «Wie ein Mensch ein altes Gewand ablegt und ein neues anzieht, verlässt der Geist seinen sterblichen Körper und bekleidet sich mit einem neuen.» (Bhagavad Gita II,22)

Meister Krishna wies Arjuna an, kein Mitleid für die zu empfinden, die er töten sollte, da die Seele ohnehin nie geboren worden sei und niemals sterbe. «Du empfindest Mitleid, wo Mitleid keinen Platz hat. Weise Männer empfinden kein Mitleid für das Sterbende und auch nicht für das Lebende. Es gab keinen Zeitpunkt, an dem du oder ich wie auch alle diese Fürsten nicht existierten – und solch einen Tag, an dem wir alle aufhören zu sein, wird es auch in Zukunft nicht geben.» (Bhagavad Gita II,12–13)

Sheelas Eltern hatten keine Hoffnung für sie, weil sie nicht wussten, dass ihre kleine Tochter zudem noch einen Vater im Himmel hatte, der nicht an Natur, Geschichte, Kultur und Karma gebunden ist. Es lag in seiner Hand, ihr Schicksal zu wenden – wie einst bei Josef, der im Gefängnis landete, obwohl er kein böses Karma hatte. (1. Mose 39–41)

Immer mehr dämmerte mir, dass unsere gegensätzlichen Weltanschauungen letztlich über Tod und Leben entschieden und dass Armutsbekämpfung auch die Auseinandersetzung mit dem Fatalismus erforderte. So versuchte ich, meinen Nachbarn nahezubringen, dass es für uns als Menschen lebenswichtig ist, den lebendigen Gott zu kennen und ihm zu vertrauen. Diese Verknüpfung von Erkenntnis Gottes (Theologie) und Erkenntnis des Menschen (Anthropologie) ist entscheidend, will man die moderne westliche Welt verstehen.

Vishal Mangalwadi: «Das Buch der Mitte» (Fontis-Verlag), S. 98–105

Jordan Peterson spricht mit Vishal Mangalwadi über die Geschichte Indiens und die Rolle, die die Bibel bei der Gestaltung dieses Landes gespielt hat:

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