Zusammenkommen: Ohne Kirche geht es nicht

Christsein ist kein Alleingang, und Teil einer kirchlichen Gemeinschaft zu sein selten ein Spaziergang. Markus Spieker schreibt in seinem über 20.000 Mal verkauften Bestseller «Jesus. Eine Weltgeschichte» über die Bedeutung der Kirche. Ein Auszug.

Der Engländer John Donne führte ein abenteuerliches Leben, das ihn im staatlichen Auftrag bis nach Spanien und auf die Azoren brachte. Dann bekehrte er sich, sattelte auf eine Kirchenlaufbahn um und wurde schließlich Dekan der Londoner St. Paul’s Cathedral. Heute erinnert man sich an ihn vor allem als Lyriker. Seine berühmteste Zeile verfasste er in der Adventszeit des Jahres 1623. Der inzwischen 51-Jährige hatte sich gerade von einer schweren Krankheit erholt. Sein Leid und die Unterstützung, die er dabei von anderen Menschen erfuhr, hatten ihm bewusstgemacht, was er nun in Versform kleidete:

«No man is an island entire of itself; every man is a piece of the continent, a part of the main.» – «Kein Mensch ist eine Insel, in sich abgeschlossen. Jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlandes.»

Was für Menschen im Allgemeinen gilt, das gilt für Christen im Besonderen. Wenn die Bibel unseren Glauben nährt und sich im Gebet unsere Hoffnung auf Gott ausdrückt, dann ist die Kirche der Raum der Liebe. Diese «Ekklesia», die Gemeinschaft der «Herausgerufenen», gibt es in institutioneller Form. Aber auch ganz informell überall da, wo Christen zusammenkommen.

Christsein ist kein Solotrip. Zwar haben die Wüstenväter und andere christliche Eremiten in der Einsamkeit gelebt – aber immer nur vorübergehend.

Der Mensch ist als soziales Wesen erschaffen, sein Wesen kann sich nur in der Kooperation mit anderen entfalten. Deshalb ist auch nicht das stille Kämmerlein, sondern die Gemeinde das Kraftzentrum und Entgiftungslazarett des Christen. So wie unsere mentalen Belohnungssysteme uns gute Gefühle bescheren, wenn wir Nahrung zu uns nehmen (was unser Überleben sichert) oder Sex haben (was unsere Fortpflanzung ermöglicht), so hilft uns die Kirche als soziales Belohnungssystem dabei, treue Liebe zu üben.

Die Kirche schafft eine Plausibilitätsstruktur, in der Glaube real ist, auch wenn der Rest der Welt ihn für irreal erklärt.

Ohne Kirche geht es nicht. Der Heilige Geist ist kein Bewusstseinsimplantat, das in unserem Hirn automatisch das Gute verstärkt. Der Heilige Geist ist am wirksamsten in Beziehungen, in den unsichtbaren Zwischenräumen zwischen Christen.

Deshalb beschränkten sich die Apostel auch nicht darauf, Christen in Serie zu produzieren. Wo sie hinkamen, gründeten sie Gemeinden. Sie riefen nicht dazu auf, die göttliche Liebe nach dem Gießkannenprinzip über den Rest der Welt auszukippen. Sie riefen den Rest der Welt in die Gemeinden hinein, um dort Liebe zu erfahren und zu verwirklichen.

Um tadellose Heiligenvereine handelte es sich auch bei den frühesten Gemeinden nicht.

Kirchen sind oft Chaosclubs. Manche Christen kennt man, wie peinliche Onkel und Tanten, am besten vom Wegschauen. Und manche unserer Glaubensgeschwister werden dasselbe womöglich von uns denken.

Es menschelt im Reich Gottes. Paulus verzweifelte oft an den Christenversammlungen, mit denen er in Briefkontakt stand: an der ängstlichen Engstirnigkeit einiger Galater oder am stolzen Libertinismus einiger Korinther. Vor allem ärgerte er sich über die Zerstrittenheit der Christen. Schließlich hatte Jesus die glasklare Parole ausgegeben: «An eurer Liebe zueinander sollen die Menschen erkennen, dass ihr meine Nachfolger seid.»

Problematisch ist nicht, dass es Konflikte unter Christen gibt, sondern wie sie ausgetragen werden. Wenn schon Petrus, Jakobus und Paulus, die Pfeiler der christlichen Urgemeinde, miteinander stritten, kann daraus geschlossen werden, dass Meinungsverschiedenheiten unvermeidlich sind.

Das musste auch der große Theologe Origenes einräumen. In der Mitte des dritten Jahrhunderts verfasste er sein umfangreiches Werk «Über die Grundlagen des christlichen Glaubens» und damit den ersten großangelegten Versuch, die verschiedenen Aspekte des Evangeliums systematisch zu ordnen. Im Vorwort räumte er ein, dass «viele, die sich zum Glauben an Christus bekennen, nicht nur über kleine und kleinste Dinge uneins sind, sondern sogar über große und größte, nämlich über Gott, über den Herrn Jesus Christus selbst und den Heiligen Geist».

Streit ist erlaubt, sogar mitunter produktiv.

Aber Spaltung?

Wer davon ausgeht, dass nur eine einzige Kirchenorganisation die wahre ist, kann diese Behauptung kaum aus der Geschichte der letzten zweitausend Jahre ableiten. Eine echte «katholische» – also: allumfassende – Kircheninstitution hat es nie gegeben, ebenso wenig eine «orthodoxe», also: rechtgläubige, deren Lehre allgemeiner Konsens geworden wäre.

Schon im frühen Mittelalter koexistierte eine westlich-katholische Kirche mit einer östlich-orthodoxen, hinzukamen die koptischen (übersetzt: ägyptischen) Christen und zahlreiche andere afrikanische und asiatische Gemeindezusammenschlüsse. Die Spaltung der westlichen Christenheit in einen katholischen und einen evangelischen Teil war nur einer von vielen. Eine Welteinheitskirche wird es aller Wahrscheinlichkeit nach erst im Himmel geben.

Ist vermutlich gut so.

Der Wettbewerb hält wach, die Machtverteilung demütig. Außerdem führt mehr Diversität zu mehr Kreativität.

Für die Zukunft wünschenswert wäre allerdings, dass mehr Synergieeffekte entstehen, vor allem beim Schutz verfolgter Christen weltweit.

Der wichtigste kirchliche Raum ist die Gemeinde vor Ort. Darüber hinaus steht jeder Christ in einem weltweiten Beziehungsgeflecht. Es gibt sogar noch eine Verbindung, die nicht horizontal, sondern vertikal verläuft – in die Vergangenheit und in die Zukunft.

«Über uns schwebt eine Wolke von Zeugen», schrieb der Autor des Hebräer-Briefs und meinte damit die Glaubenshelden des Alten Testaments. Genauso wie bei Jeremia und Daniel können wir uns orientieren an berühmten Jesus-Nachfolgern der letzten zwanzig Jahrhunderte, an Athanasius und Luther, an Florence Nightingale und Mutter Teresa, an Simone Weil und Charles Haddon Spurgeon. Bei manchen theologischen Kontroversen hilft die Frage «Was würde Jesus dazu sagen?» nicht weiter, weil das strittige Thema zur Zeit von Jesus gar nicht aktuell war. In solchen Fällen kann man sich bei Vätern und Müttern des Glaubens rückversichern, die auch deshalb so vertrauenswürdig sind, weil sie oft mit einem Bein auf dem Scheiterhaufen standen oder mit dem Kopf auf dem Henkersblock. Der Staffelstab, den die Glaubensväter und Glaubensmütter übergeben haben, muss wieder an die nächste Generation weitergereicht werden. Vor einer verpatzten Übergabe muss Christen nicht bange sein.

Jesus hat garantiert: Das Rennen geht weiter. Bis ans Ende der Zeit.

Auszug aus «Jesus. Eine Weltgeschichte.» (S. 949 – 953)

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